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Vom Zwang zum Ideal – oder: Warum gut genug oft besser ist

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Vom Zwang zum Ideal – oder: Warum gut genug oft besser ist

Perfektionismus erkennen, verstehen und therapeutisch bearbeiten

Perfektionismus ist zu einem der zentralen Phänomene unserer Zeit geworden – und zu einem transdiagnostischen Faktor, der in der Therapie zunehmend Raum einnimmt. Forschung zeigt, dass perfektionistische Tendenzen in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich zugenommen haben, parallel zur Verdichtung von Leistungsanforderungen, sozialer Vergleichbarkeit durch digitale Medien und der kulturellen Überzeugung, dass Selbstoptimierung machbar und notwendig ist. Was als motivierendes Streben nach Exzellenz beginnt, entwickelt sich bei vielen Menschen zu einem rigiden, selbstschädigenden Muster, das therapeutische Prozesse blockiert, Symptomreduktion verhindert und Lebensqualität massiv einschränkt.

Sie kennen das aus Ihrer Praxis: Die Patientin mit Depression, die jede Therapieübung perfekt machen will und sich dann für „Versagen“ verurteilt, wenn Fortschritte ausbleiben. Der Klient mit Zwangsstörung, dessen Expositionsübungen scheitern, weil er sie „richtig genug“ durchführen muss. Die erschöpfte Akademikerin mit Burn-out, die trotz Überlastung keine Aufgabe abgeben kann, weil „niemand es so gut macht wie ich“. Der Student mit Prüfungsangst, der lieber gar nicht zur Klausur erscheint, als eine „nur befriedigende“ Leistung abzuliefern. Perfektionismus durchzieht eine Vielzahl von Störungsbildern – Depression, Angst, Zwang, Essstörungen, chronische Erschöpfung, Prokrastination – und wirkt oft als aufrechterhaltender Faktor, der Veränderung systematisch sabotiert.

 

Was Sie in diesem Kurs erwartet:

Sie erhalten eine fundierte Einführung in die Psychologie des Perfektionismus – ein Konstrukt, das komplexer ist als es zunächst scheint. Die Forschung unterscheidet verschiedene Dimensionen: selbstbezogener Perfektionismus (eigene überhöhte Standards), fremdbezogener Perfektionismus (unrealistische Erwartungen an andere) und sozial vorgeschriebener Perfektionismus (das Gefühl, anderen Standards erfüllen zu müssen). Sie verstehen, warum manche Formen adaptiv sein können, während andere pathogen wirken – und wie Sie diese Unterscheidung therapeutisch nutzen.

Der Kurs arbeitet mit praxisnahen Fallbeispielen, die typische perfektionistische Muster verdeutlichen: Der Manager, der jede E-Mail fünfmal überarbeitet und deshalb chronisch überlastet ist. Die Therapeutin in Supervision, die eigene hohe Standards auf ihre Patienten projiziert und Frustration erlebt, wenn diese „nicht genug tun“. Der Jugendliche, der lieber gar nicht anfängt zu lernen, weil die Angst vor unzureichender Leistung lähmend wirkt. Sie lernen, perfektionistische Kognitionen zu identifizieren („Alles oder nichts“, „Fehler sind inakzeptabel“, „Mein Wert hängt von meiner Leistung ab“), die dahinterliegenden Schemata zu verstehen und gezielt zu explorieren.

Besonderer Fokus liegt auf praktischen Interventionen: Wie brechen Sie dichotomes Denken auf? Wie etablieren Sie flexiblere Standards? Welche Verhaltensexperimente helfen, die Konsequenzen „guter genug“-Leistungen zu testen? Wie arbeiten Sie mit Scham und Selbstwert, die oft mit Perfektionismus verknüpft sind? Sie erproben konkrete Techniken – von kognitiven Umstrukturierungen über Verhaltensexperimente bis hin zu achtsamkeitsbasierten Ansätzen, die perfektionistische Selbstkritik entschärfen. Der Kurs vermittelt außerdem, wie Sie Perfektionismus als transdiagnostischen Faktor in Behandlungspläne integrieren, auch wenn er nicht die Hauptdiagnose ist.

 

Konkret werden behandelt:

  • Perfektionismus-Konzepte und Dimensionen: Selbstbezogener, fremdbezogener und sozial vorgeschriebener Perfektionismus – Sie verstehen die verschiedenen Facetten und können diese differenziert explorieren
  • Transdiagnostische Relevanz: Wie wirkt Perfektionismus bei Depression, Angst, Zwang, Essstörungen, Prokrastination und chronischer Erschöpfung? Wann ist er primäres Problem, wann aufrechterhaltender Faktor? Konkrete Beispiele aus verschiedenen Störungsbildern
  • Diagnostische Exploration: Welche Fragen decken perfektionistische Muster auf? Wie explorieren Sie Standards, Fehlerüberzeugungen, Selbstwert-Kopplungen? Leitfäden für systematische Erfassung in Erstgesprächen und laufender Therapie
  • Kognitive Interventionen: Dichotomes Denken aufbrechen, katastrophisierende Fehlerbewertungen modifizieren, Selbstwert-Leistungs-Kopplungen lösen – mit konkreten Gesprächsbeispielen und Arbeitsblättern
  • Verhaltensexperimente: „Gut genug“-Übungen gestalten, Konsequenzen unvollkommener Leistung testen, Prokrastination durch Perfektionismus überwinden – Sie lernen, wie Sie Patienten zu mutigen Experimenten motivieren
  • Achtsamkeits- und akzeptanzbasierte Ansätze: Selbstmitgefühl kultivieren, perfektionistische Selbstkritik entschärfen, mit Scham therapeutisch arbeiten – Techniken, die rigide Standards flexibilisieren
  • Fallstricke und Therapeuten-Perfektionismus: Wie gehen Sie mit eigenen perfektionistischen Tendenzen um? Wann projizieren Sie unrealistische Erwartungen auf Patienten? Reflexion der eigenen Therapeutenrolle

 

Warum dieser Kurs?

Perfektionismus ist einer der am häufigsten übersehenen aufrechterhaltenden Faktoren in der Psychotherapie – nicht weil er unsichtbar wäre, sondern weil er oft als „Fleiß“, „Gewissenhaftigkeit“ oder „hohe Ansprüche“ fehlinterpretiert wird. Dabei zeigt die Forschung eindeutig: Pathologischer Perfektionismus ist ein robuster Prädiktor für schlechte Therapieergebnisse, erhöhte Rückfallraten und chronischen Leidensdruck. Kulturell wird Perfektionismus oft positiv konnotiert – wer hohe Standards hat, gilt als erfolgreich. Therapeutisch ist er jedoch eine massive Belastung.

Wer Perfektionismus gezielt identifiziert und bearbeitet, kann Behandlungsverläufe deutlich verbessern. Patienten, die lernen, mit „gut genug“ zu leben, zeigen nicht nur Symptomreduktion, sondern auch erhöhte Lebenszufriedenheit, bessere soziale Beziehungen und stabilere Therapieerfolge. Dieser Kurs vermittelt Ihnen das konzeptuelle Verständnis und die praktischen Werkzeuge, um ein Phänomen zu behandeln, das in nahezu jeder Praxis präsent ist – oft unbemerkt, aber wirkmächtig. Sie lernen, Perfektionismus nicht als Charakterstärke zu romantisieren, sondern als therapeutisches Ziel zu begreifen: Flexibilität statt Rigidität, Selbstmitgefühl statt Selbstkritik, Lebendigkeit statt Leistungszwang.

 

Dozent:

Dipl.-Psych. Nils Spitzer